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Und noch einmal Smolensk

Und noch einmal Smolensk

31. Dezember 2010Es war ein sehr ereignisreiches Truckracing-Jahr, insbesondere in der zweiten Saisonhälfte. So gab es dann auch in den News hier beim WebPortal „truckracing.de / truckrace.info“– verglichen mit dem ersten Halbjahr – doppelt soviel zu lesen. Und dabei ging es dann häufig um das Event „Truck Battle Russia-Smolensk 2010“, dem ersten FIA-Rundstrecken-Rennen in Russland überhaupt. Jetzt noch – fast ein halbes Jahr später – gibt es dazu immer wieder Emailanfragen und -kommentare, nicht selten verbunden mit Kritik und Verwunderung. Schließlich staunte seinerzeit auch so mancher lang gediente Truckracer über die zum Teil doch recht ungewöhnlichen Begleitumstände und stand dem Rennen am Smolenskring genervt und gestresst insbesondere nach der langen und schwierigen Anreise und den langwierigen Grenzkontrollen am Übergang Terehova/Zasitino – zwischen acht und elf Stunden – mehr als nur kritisch gegenüber.
Bei der Rückreise eine Woche später, als die gleichen Kontrollen in Gegenrichtung nur noch einen Bruchteil der Zeit dauerten, sahen auch die schärfsten Kritiker all das schon wesentlich gelassener. Schließlich war man ja doch schon ein bisschen stolz, dass das erste offizielle FIA-Rennen in Russland ein Lauf der FIA European Truck Racing Championship gewesen war.
Dennoch blieben viele Fragen, die so auch häufiger von den Besuchern des WebPortals gestellt werden, offen. Offizielle Verlautbarungen beispielsweise, wer denn nun wann die eigentliche Streckenabnahme durchgeführt hat, gibt es bis heute nicht. Im Vorfeld hatte es geheißen, dass solch eine Abnahme 90 Tage vor dem Rennen durch eine unabhängige Kommission zu erfolgen habe, zu der auch Vertreter mindestens einer anderen anerkannten FIA-Rennstrecke und natürlich auch Mitarbeiter des für die Bauplanung und -ausführung zuständigen Unternehmens gehören würden. Zumindest vom Aachener Ingenieurbüro Tilke, den verantwortlichen Architekten, war niemand zur Abnahme vor Ort. Und so mancher Truckracer meinte damals dann auch, mit uns kann man es ja machen, bei der Formel 1 hätte man sich das nicht erlaubt.
Da wussten die Rennsportfreunde aus aller Welt allerdings noch nicht, was sich gut 2 Monate später rund um das Formel 1-Rennen in Südkorea alles tun würde. Verglichen damit war Smolensk eigentlich ein Klacks. Und dass dann bei der FIA Gala in Monaco vor einigen Tagen gerade dieses F1-Rennen als beste Motorsportveranstaltung der Saison ausgezeichnet wurde, lässt nur noch vermuten, dass bei den Verantwortlichen innerhalb der FIA mittlerweile ganz andere Prioritäten gesetzt werden; da interessiert die Streckenabnahme des Smolenskrings nicht einmal mehr am Rande.
Aber was zog nun die Truckracer so nach Russland?
Jahrelang hatte es bei den Unternehmen, die in der FIA ETRC den Ton angaben, also Mercedes-Benz, MAN und Renault, geheißen, im Osten liegt die Zukunft, wir müssen nach Russland. Doch dann stoppte mit Mercedes einer der stärksten Verfechter dieser These sein Engagement im Truckracing. Das weltweite Krisenjahr 2008 ließ den Automobilmarkt in Russland – insbesondere im Nutzfahrzeugsektor – nahezu zusammenbrechen. Noch uninteressanter für die ausländischen Hersteller schien Russland zu werden, als 2009 dann die Kraftfahrzeug-Importzölle kräftig erhöht wurden, um die heimische Produktion zu schützen. Und damit hatte die russische Regierung anfangs auch in gewisser Weise Erfolg.
Zwar ging der LKW-Verkauf in Russland allgemein um rund 60 Prozent zurück (2008: 121.000 – 2009: 48.000), doch während zum Beispiel die mit Abstand stärkste russische Marke, Kamas, einen Rückgang von „nur“ 48 Prozent zu verzeichnen hatte, traf es die am stärksten auf dem russischen Markt vertretenen ausländischen Hersteller, Volvo, MAN und Scania, mit einem Rückgang von jeweils mehr als 75 Prozent sehr viel härter. Der Anteil ausländischer Hersteller am Gesamtmarkt war von 41,7% (2008) auf 28,7% (2009) gefallen.
Doch nun im ersten Quartal 2010 waren die Verkäufe nicht-russischer Lkw-Marken wieder um 41% gestiegen, bei schweren Lkw (über 16 t) gar um 87%.
Ministerpräsident Putin kündigte schließlich im September an, mit weiteren schrittweisen Erhöhungen der Einfuhrzölle auf Kraftfahrzeuge wolle er ausländische Konzerne dazu bringen, künftig mehr in Russland zu produzieren.
Darauf waren diese Unternehmen allerdings längst vorbereitet. Seit Mitte 2009 fertigt Volvo-Trucks in Kaluga nicht nur eigene Modelle, sondern auch Lkw der Marke Renault. Darüber hinaus will Renault-Trucks selbst im Werk Amur in Jekaterinburg Fahrzeuge der mittleren Größe produzieren. Erst im April hat Scania sein russisches Montagewerk in Betrieb genommen, und Mercedes-Benz-Trucks sowie die Tochter Fuso sind Joint Ventures mit dem russischen Marktführer Kamas eingegangen, an dem der Daimler-Konzern allerdings eh schon zu 11 % beteiligt ist.
So etwas lohnt sich, denn die Import-Zölle auf Fertigfahrzeuge sind rund viermal so hoch wie die auf Einzelteile, die dann vor Ort montiert werden. So wird der russische Markt für die westlichen Hersteller schließlich wieder sehr viel interessanter. Und unter diesem Aspekt erscheint das große Engagement von MAN und Renault Trucks am Smolenskring in einem ganz anderen Licht – und erklärt auch deren großes Interesse an einem Rennen der FIA European Truck Racing Championship in Russland.
Zum Schluss noch etwas zu der vielfach gestellten Frage, warum die Rennstrecke dort denn Smolenskring heißt, wenn doch die Stadt Smolensk selbst so weit entfernt liegt.
Tatsächlich hatte der Bus, der die nicht im Paddock wohnenden Fahrer, Teammitglieder, Journalisten und Offiziellen zum Hotel in die Stadt brachte, eine Fahrtstrecke von 102 km – für eine Richtung. Smolensk ist mit seinen rund 320.000 Einwohnern aber nicht nur die größte und mit seiner gut 1200jährigen Geschichte auch bekannteste Stadt der Region, sondern auch Namensgeber der Verwaltungseinheit Oblast Smolensk – etwa vergleichbar mit einem Regierungsbezirk in Deutschland. Mit rund 50.000 qkm ist Oblast Smolensk jedoch fast so groß wie die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zusammen, hat aber dennoch nicht einmal eine Millionen Einwohner – gegenüber rund 22 Millionen in den beiden Bundesländern. In einem solch riesigen Land wie Russland haben Entfernungen eben eine ganz andere Bedeutung.
Zudem heißt die Ortschaft in unmittelbarer Nachbarschaft der Strecke, in der wir eingekauft und den Markt besucht haben, in der wir von den Leuten so überschwänglich freundlich begrüßt wurden, Veskhnedneprovskiy – wahrscheinlich nicht der ideale Name für eine Rennstrecke, die sich international etablieren möchte.